Verfasst von: Dennis K. | 25. Juli 2023

Kolumbien – ein paar Einsichten in das Leben der Mehrheit der Menschen, Wasser als Todbringer und Lebenselixier und ein bisschen über den kolumbianischen Mindestlohn

Ich bin -so Gott weiss- kein Sozialist, sicherlich aber auch kein Hardcore-Kapitalist. So sehr der Realsozialismus an den Menschen als selbstbestimmte Individuen vorbei geht, so wenig regelt der Markt weder die Belange seiner Shareholder geschweige denn die seiner Stockholder immer effizient. Als grundsätzliches Regelungsinstrument halte ich den Markt aber weiterhin für unübertroffen.


Wirtschaftspolitisch an breiter Front eingesetzte Mittel sind Steuern und staatliche Leistungen im Allgemeinen und Mindestlohn bzw. Sozialhilfe am Arbeitsmarkt im Speziellen. Diese steuern die Anreize der Markteilnehmer sowohl angebots- als auch nachfrageseitig. Den Arbeitsmarkt erwähne ich hier gerne, weil schon seit Marx die Arbeitskraft das Einzige ist, über das die breite Masse verfügt. Dass die Breite Masse hier in Kolumbien lediglich über ihre Arbeitskraft verfügt und wirklich nur Wenige die Habenden ausmachen, scheint in Kolumbien ausgeprägter zu sein als in vielen Ländern.

Meine Recherche bei der Weltbank bestärkt diesen Eindruck und weist für Kolumbien regelmässig einen Gini-Koeffizienten von über 0,5 aus, erfreulicherweise sinkend in den letzten Jahren, so dass das Land eine gewisse Partizipation zu erleben scheint.

„Legende“: so roter desto ungleichverteilter sind Vermögen und Einkommen.

Das deckt sich mit meinen subjektiven Eindrücken, habe ich die Sub-Sahara-Staaten, v.a. Südafrika deutlich ungleichverteilter wahrgenommen als die muslimischen Staaten in und nördlich der Sahel-Zone.. Wirklich „krasser“ erschien mir persönlich nur Südafrika dessen kompletten Westen ich von Namibia aus kommende traversierte und das Gefühlte stimmt mit „den Statistiken“ überein.

Mindestlohn

Wer für eine Arbeitsstunde als Unternehmer/Arbeitgeber 10€ zahlen muss, selber sich aber nicht in der Lage sieht, diese Arbeitsstunde am weiteren Markt als Produktivität für sich zu mindestens 10 € zu platzieren, wird die Arbeit nicht dauerhaft nachfragen. Aus Sicht des Arbeitnehmers wiederum schützen aber Mindestlohn vor einer „allzu prekären“ Ausnutzung der eigenen Arbeitskraft, vor allem, wenn „die Arbeitskraft“ sich einem Heer ähnlich qualifizierter Konkurrenten ausgesetzt fühlt.

Zunächst möchte ich meinen Ausführungen folgendes ganz bewusst vorausstellen: 

Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich selber mein ganzes bisheriges Leben zu den materiell Privilegiertesten in Mitteleuropa gehöre, das ja nach fast über 75 Jahren des Friedens sich selber als eine der privilegiertesten Wirtschaft- und Lebensräume überhaupt platziert. Auch wenn in den 90er Jahren und v.a. jetzt nun seit bald 18 Monaten dieses Privileg für Millionen durch Gefahr für Leib und Leben und Vertreibung in Gefahr gerät.

Früher sprach man gerne umgangssprachlich von den obersten 10.000, zu denen ich gehöre. Lassen wir mal die genau Zahl aussen vor, gerade in Bezug auf den mir fremden Realsozialismus mag ich diese Sichtweise überhaupt nicht. Die obersten wovon ? Wollen wir uns auf Vermögen beziehen, auf Einkommen, gesellschaftlichen Einfluss -ökonomischer oder politischer- Natur beziehen oder geht es um Bildung, neuerdings auch gar um Follower und Likes oder -der eine oder andere wird lachen müssen- ich erinnere mich gerne an meine eigene Sozialismuskritik aus späten Teenagertagen, um die Summe der ausgeübten Geschlechtsverkehre mit einer möglichst hohen oder niedrigen (?) Anzahl von Geschlechtspartnern. Spätestens hier sind wir -den Gesetzen von Darwin folgend- nämlich nicht alle gleich und ich finde hier sollte man mit der Umverteilung auch mal ansetzen ! Hier muss ich manchmal an die sozialdemokratischen Bürgermeister denken….

Nunja, ich habe eine manierliche Ausbildung genossen und daher möchte ich meine Beobachtung auch nachvollziehbar machen und an einer mehr oder weniger anerkannten Faktenlage orientieren. Trotzdem finden sich in den folgenden Zeilen meine ganz eigenen Empfindungen. Hier in Kolumbien schlägt mein Herz deutlich linker als z.B. in meiner Heimatstadt Duisburg.

So lebe ich selber in der Schweiz und diese führt 2022 erstmals wieder seit einigen Jahren wieder die HDI-Länderliste an. Der HDI ist ein Indikator für menschliche Entwicklung, der Ungleichheit in Bildung, Gesundheit und Einkommen einschließt. Je größer die Ungleichverteilung, desto niedriger ist der HDI.

Dieser Index hat mich in den letzen 30 Jahren immer irgendwie überzeugend begleitet auf meinen Reisen zu den Menschen, für die deutliche andere Lebesrealitäten gelten. So ist Deutschland 2022 (subjektiv auch zutreffend) von Platz 4 auf Platz 9 abgerutscht, aber immer noch deutlich vor Ländern wie Kanada (15.), U.K. (18.), USA (21.) und Frankreich (28.), die aber mit einem Index von >= 0,900 allesamt noch den höchstentwickelten Staaten zugerechnet werden. „Wir“ Deutsche sollten uns auch noch vor Augen halten, dass wir das entwickelste Grossland sind, sollte man das flächenmässig riesige Australien mit seinen 25.Mio Einwohner nicht dazu zählen wollen. Wir müssen uns nur Länder wie der Schweiz, Singapur, Norwegen und Luxemburg „geschlagen“ geben. Soviel zum Thema „jammern“.

Mit Italien (30.), Griechenland (33.) und Polen (34.) folgen dann Länder, die den hoch entwickelten Ländern zugeordnet, sie allesamt liegen noch vor Chile (42.) und Argentinien (47.) – den entwickeltsten Ländern Südamerikas. Yis spricht immer ein wenig ehrfürchtig von der Schweiz Südamerikas, wenn unser Gespräch auf Chile kommt.

Kolumbien selber liegt auf Platz 88 unmittelbar hinter den grossen Brüdern Mexiko (87.) und Braslien Platz (88.) aber noch vor Ländern wie Ekuador (95.), dem armen Binnenland Paraguay (105.) und dem sich im freien Fall(!!) befindlichen, in Gewaltexzessen, in Anarchie verfallenen Venezuela. Dazu und zum Thema der Immigration hat mein neuer Radfreund Edgar, ein 51jähriger Colonel a.D. der Kolumbianischen Streitkräfte zum Beispiel eine auch in Mitteleuropa wieder sehr zunehmende Meinung. Mehr dazu an anderer Stelle. Wie ich beim Arbeiten an diesen Zeilen gelernt habe, gibt es mittlerweile einen „Inequality-adjusted Human Development Index“, einen IHDI, dessen Konzept mir neu ist, mich aber vielleicht am meisten überzeugt. Wer will kann das ja einmal nachlesen.

Wie sieht das Leben der mit am Mindestlohn arbeitenden Menschen aus.

Zu Erläuterung, der kolumbianische Pesos $ hat eine gewisse Volatilität im letzten Jahr durchgemacht. Von 4100Pesos/Euro Anfang Juli 2022 fiel er auf 5200Pesos/Euro nach dem Jahreswechsel und pendelt sich jetzt wieder bei 4500pesos/Euro ein. Die Inflation im letzten Jahr war dabei merklich, auch für Menschen wie mich mit einer ganz anderen Perspektive auf das Preisgefüge.

Diese Berechnung habe ich im Internet gefunden und es deckt sich mit meinen Gesprächen mit Yis und den Menschen vor Ort. Der Mindestlohn beträgt in Kolumbien momentan 1.117.000 Pesos (248€). Bei zwei voll (!) arbeitenden Eltern somit knapp 500€.

Die Kosten beziehen sich auf den monatlichen Unterhalt einer Familie, also einen 4-Personen Haushalt, mit 2 erwachsenen Eltern und 2 Kindern im schulpflichtigen Alter an einer öffentlichen Schule.

Frühstück
4 Eier 2.000 $
4 Brote 2.000 $
1 Beutel Milch 3.100 $

—–
Tagessumme: 7.100 $ (1,66€)
Pro Monat (30 Tage): 213.000


Mittagessen und Abendessen
1 Pfund Reis 2.300 $
1 Pfund Kartoffeln 1.700 $
1 reife Banane 1.600 $
1 Pfund Fleisch 15.000 $ (Fleisch)
Alternativ Hähnchenbrust: 8.500$
1/2 Pfund Zwiebel 700$
1/2 Pfund Tomate 800$
1 Pfund Fruchtsaft (Brombeere): 2.000$

——
Tagessumme (Auswahl der sparsamsten Brust): 17.600 $ (3,90€)
Insgesamt 528.000 $ pro Monat


Kochhilfsmittel
Öl x 5000 ml 40.000 $
Zucker x2500 Gramm für 8000 $
Salz x 1 kg 1700 $
Colcafé x 170 Gramm 13.000 $ (kleiner Luxus)
Schokolade x500 Gramm für 4800 $ (kleiner Luxus)

——
Gesamtsumme von 67.500 $
Insgesamt 595.500 US-Dollar für das tägliche Mittagessen plus Küchenutensilien pro Monat


Persönliche Hygieneartikel und Haushaltsmittel
Toilettenpapier x 12 Rollen 14.000 $
Badeseife x 3 und 7000 $
Großes Shampoo 14.000 $
2 Beutel Waschmittel 15.000 $
Billige Zahnpasta x 3 und 8600 $
Lavaloza x2 und weitere Schwämme 9000 $
Bodenreiniger 2 Liter: 6.500$
Bleichmittel 2000 $

——
Insgesamt 76.100 $ monatlich

Transport
Transmilenio kostet 2.600 $ für vier Tickets, zwei morgens und zwei, wenn Vater und Mutter von der Arbeit zurückkommen.
Täglich 10.400 $
Monatlich (minus 4 Sonntage): 270.400 $

Miete
Grundmiete für kleine Wohnung pro Monat: 650.000 $ (144€)
Monatliche Grundversorgung (Nebenkosten) Wasser, Energie, Gas 160.000 $ (35€)

Nun zählen wir alles zusammen:


Frühstück 213.000 $
Mittagessen, Essen, Küchenbedarf 595.500 $
Persönliche Hygiene und Haushaltshygiene 76.100
Transportiert transmilenio Arbeit Vater und Mutter 270.400 $
Miete 650.000 $
Nebenkosten 160.000 $
Vollständig monatliche Familienunterstützung
1.965.000 US-Dollar
Der Mindestlohn in Kolumbien + zusätzliche Transportkosten von 1.117.000 US-Dollar
x 2 Vater und Mutter…
2.234.000 $
Abzüglich 1.965.000 US-Dollar an monatlichen Ausgaben
Es bleiben noch 269.000 US-Dollar (60€) übrig, um die Studiengebühren, das Fernsehen und das Internet zu finanzieren, da hat man wirklich kaum Raum für Etwas !!

Laut Dane leben mehr als 32 Millionen Kolumbianer von einem Mindestlohn, ein großer Prozentsatz dieser Zahl gehört zur Gruppe der 21 Millionen Kolumbianer, die arm sind, da ihr Familienkern durch nur einen Mindestlohn aufrechterhalten wird, und weitere 7,8 Millionen Kolumbianer leben in extremer Armut, da ihr Einkommen nicht einmal 145.000 Pesos pro Monat erreicht und sie in Randgebieten der Städte und des Landes leben. Wenn man dies analysiert und versteht, dass eine Familie, die in Kolumbien 2 Millionen Pesos verdient, nicht zur Mittelschicht gehört, beginnt man, die Gründe für die Proteste und Märsche zu verstehen …

Yis lebt in einem auch für kolumbianische Verhältnisse bescheidenen Viertel, seit der Trennung von ihrem Mann wieder im Hause der Eltern. Sie hat die alleinige Obhut für Samuél und die beiden sind ein grandioses Team – dabei erhält sie von ihrem Ex-Mann 150.000 pesos Kindsunterhalt für dSamuél – das sind knapp 34€ monatlich. Sie macht jetzt eine zweite Ausbildung zur Tierarztgehilfin nunmehr im zweiten Semester, wurde gerade zur Kurssprecherin gewählt (mit deutlichem Abstand wie sie mir stolz verkündete) und hat noch immer den Traum, irgendwann Tierärztin zu werden. Ihre Disziplin, auch als Mutter, und ihre Unaufgeregtheit beeindrucken mich zutiefst.

Ihre Art ist im Moment neben meinem URS die beste Medizin und zwischen den Semestern hatte sie jetzt ein Projekt, was sie mit so viel Passion und Liebe betreut. Sie hat 50 Küken in 50 Tage zur Schlachtreife zu bringen…. vom Wasser oder eben Nicht-Wasser des obrigen Titels erzähle ich Euch gerne an anderer Stelle – mir geht hier in einem der führenden Hotels vor Ort das Wasser selbstredend nicht aus – das restliche Villavicencio ist seit der Schlammlawine seit einer Woche trocken !


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